Limited blindness



Es gibt eine Künstlergruppe, die nennt sich limited blindness und macht u.a. Theater im Dunkeln. Warum? Warum verzichtet sie auf die gestaltbare Fülle von Mimik, Kostüm und Bühnenbild? Warum reduziert sie wesentliche Kommunikationsmomente des Theaters?

Ich weiß nicht, ob Theater immer dasselbe ist; aber wenn es so wäre, wäre es erträglich. Wir hätten nur noch begrenzte Bedürfnisse, Erwartungen, wir hätten keine Vorstellung mehr davon, wie weich sich Daunen anfühlen, wie das Andere schmeckt, schlimmer noch, wir würden auch Härte nicht mehr spüren und das Immerdasselbe nicht mehr schmecken, bei offenem Auge würde wir nicht mehr sehen, nicht spüren, nicht schmecken, alles wäre erträglich, wir wären geschrumpft. Dass die Rahmenhandlung von Zuschauern und Theatermachern in tradierter Weise beinahe alltäglich vollzogen wird, spricht dafür.

In diesem Fall wäre Theater dann wie Alltag, der immer derselbe ist, der immer erträglicher wird, weil er leiser wird, schweigend, immer schweigender, weil sein Lärm zunehmende Taubheit produziert. Im Alltag unterliegen wir der vom Praktisch-Zweckmäßigen ausgehenden Stille tödlich. Vielleicht verstand Kandinsky dieses WIR UNTERLIEGEN DEM PRAKTISCH-ZWECKMÄSSIGEN TÖDLICH, dieses TÖDLICH, metaphorisch, wahrscheinlich nahm er es 1926 bereits wörtlich. Er setzte gegen diese Stille die Erschütterung: nicht Krieg, der als äußere Erschüttung zwar Neues hervorwälzt aber auch die Ablehnung des Neuen als Fremdes schafft, sondern die innere, künstlerische. Die von innen kommenden Erschütterungen, DIE VON INNEN KOMMENDEN ERSCHÜTTERUNGEN SIND ANDERER ART – SIE WERDEN VOM MENSCHEN SELBST VERURSACHT UND HABEN ALSO IN IHM SELBST EINEN GEEIGNETEN BODEN.  DIESER BODEN IST NICHT DIE FÄHIGKEIT, DIE ‚STRASSE’ BLOSS DURCH DIE ‚GLASSCHEIBE’ ZU BEOBACHTEN, DIE HART, FEST, ABER LEICHT ZERBRECHLICH IST, SONDERN DIE FÄHIGKEIT DES SICHINDIESTRASSEBEGEBENS. DAS OFFENE AUGE UND DAS OFFENE OHR FÜHREN DIE GERINGSTE ERSCHÜTTERUNG ZU GROSSEN ERLEBNISSEN. VON ALLEN SEITEN STRÖMEN STIMMEN ZU, UND DIE WELT KLINGT. WIE EIN FORSCHER, DER SICH IN NEUE, UNBEKANNTE LÄNDER VERTIEFT, MACHT MAN ENTDECKUNGEN IM ‚ALLTÄGLICHEN’, UND DIE SONST STUMME UMGEBUNG FÄNGT AN, EINE IMMER DEUTLICHERE SPRACHE ZU SPRECHEN. SO WERDEN DIE TOTEN ZEICHEN ZU LEBENDEN SYMBOLEN, UND SO WIRD DAS TOTE LEBENDIG.

Kandinskys Künstler ist als Kind des wissenschaftlichen Zeitalters Forscher, aber er ist zögerlich, er kennt die Kategorien noch nicht, er erfindet sie auch nicht und kann sie auch nicht dem Publikum mitgeben. Er ist zu lüstern, zu begierig nach dem Lebendigen, nach den großen Erlebnissen, als dass er im Andersverstehen allein das Heil sehen würde. Seine Technik ist nicht die Darstellung, das verfremdende Darstellen, die schon immer besessene zweite Perspektive, sondern das Sichindiestraßebegeben. Das offene Auge und das offene Ohr schaffen nicht Ansichten sondern Erlebnisse. Er sucht die Erotik. Wenn er gut ist, schafft er „Kunstwerke, […diesem hier ausgelassen Teil des Zitates können wir heute auf keinen Fall mehr zu stimmen ….,] deren Impuls so stark und deren Sprache so direkt ist, dass das Werk sein kann … nun, ganz einfach sein kann, was es ist,“ dann schafft er  Werke, die sich der Hermeneutik verweigern und Erotik wecken (Sontag 1964).

Das alltägliche Blabla verstummt und die stumme Umgebung fängt an ein immer deutlichere Sprache zu sprechen, und das Werk, dessen Impuls so stark und dessen Sprache so direkt ist, ist Werk – Ding und Sprache zugleich. Nach dem Abbruch der Sprache schlägt die Umgebung, das uns umgebende Werk als Impuls auf uns ein – und ist doch schon Sprache, eine, die immer deutlicher wird, weil sie undeutlich war, weil sie noch nicht war, sondern Puls. –

– Das Erhabene aber erscheint nicht! Im Alltag des Unverständlichen, im Dauergewitter unbegriffener Impulse haben einige Werke die ihnen auferlegte religiöse Aufgabe verloren. Und doch bleibt die Überschreitung von Kategorien, individueller Begrenzungen, es bleibt Erotik.

Ich finde Werke, deren „Ooberflächen so geschlossen und klar“ (Sontag) sind, nicht erotisch. Mich reizen eher SCHWARZE WURZELN Sartre),oder SCHWIMMKÄFERHofmannsthal in einer halb gefüllten, nun vergessenen Gießkanne. Mich reizt der plötzliche Klang des vom offenen Auge erfassten FunddingsinderStraße. Mich reizt der Ekel angesichts der Wiederkehr des vergessenenverdrängtenundständigwachsendenundverwesendenDings, das als vergangenesundverdrängtesbedingendes TeildesJetzt ist, und damit politisch unkorrekt. Ding,




Geräuschklang und Kältegeruch, die Suche nach der Kategorie, nach dem Begriff, Neugier, die Anspannung des Geistes, das Anspannen der fühlenden Haut und das Anspannen des Gehörs, die Anspannung aller Sinne und die plötzliche Hingabe an das Unbekannte, Angst und Lust, Fantasie und das Erleben der eigenen phantastischen Projektionen, Ich, plötzliche Resonanzen, die eigene Kraft der Bedeutungsgebung.

Warum macht jemand Theater im Dunkeln? Um die Sinne zu verwirren. Um einmal eine Welt zu bauen, aus Fundsachen, sie einfach kurz bestehen zu lassen, ihr Klingen wahrzunehmen, ihr Resonanz zu prüfen, eine Welt, in der eine zuhört, die andere zuriecht, einer zufühlt, eine rumfingert, in der einer sich von dem nun endlich auch aufgeschriebenen Gedanken in die Weite treiben lässt, einer grüne Bilder sieht und einer rote, in der einer das Parfum des Nachbarn riecht, in der eine schläft, und keiner merkts! In der einer etwas sagt, obwohl er Zuschauer ist, und keiner merkts! Die einen merkens vielleicht doch. Bisher geht das ganz gut, weil wir uns vertrauen, obwohl wir uns nicht kennen und auch noch nie gesehen haben. Diese Neugier und dieses Vertrauen gefallen mir, sie macht mich glücklich, diese Erotik.

Limited Blindness arbeitet in erster Linie mit Fragmenten historischer Dokumente, Abfall, Rückseiten, Dingen. Immer wiederkehrendes Thema ihrer Arbeit: Freiheitsbewegungen.

Wahrscheinlich habe ich einen wesentlichen Punkt übersehen.

fabian larsson